Erwin K. Bauer
Universal Design
Als Otto Neurath der Arbeiterklasse den oft verwehrten Zugang zu Wissen verschaffte, hatte er ein wesentliches Ziel: die Gleichstellung durch Bildung,
vermittelt über neue, attraktive Medien und leicht
verständliches Informationsdesign. Information sollte
nicht passiv konsumiert, sondern partizipativ erfahren,
neugierig erforscht und aktiv aufgenommen
werden.
Auch wenn man glauben könnte, dass die Demokratisierung
von Wissen heute durch das Internet erfüllt
ist, wird die Rolle der DesignerInnen als InformationsarchitektInnen
wichtiger denn je. Denn mit der
Fülle an Information steigt auch die Orientierungslosigkeit.
Kriterien für ihre Glaubhaftigkeit festzulegen
und Relevantes auszuwählen, fällt schwer.
Hatte Otto Neurath noch die Inklusion der Arbeiterklasse
im Sinn, so würde er als sozial und politisch
engagierter Mensch heute die Idee des „Universal
Design“ begrüßen: Informationen für alle, auch für
Menschen mit besonderen Bedürfnissen, gleich gut
erfassbar zu machen. Das lässt Informationsdesign
über rein ästhetischen Fragen hinaus zur sozialen
Herausforderung werden – unabhängig davon, ob es
sich um Gebrauchsanweisungen, Infografiken oder
komplexe Orientierungssysteme handelt.
Christopher Burke
Die „Wiener Methode der Bildstatistik“ (ISOTYPE) –
zwischen Kunst und Design
Otto Neurath war kein Künstler. Als Entwickler
der „Wiener Methode der Bildstatistik“, die später
Isotype heißen sollte, war er jedoch (abgesehen von
seinen anderen Begabungen) eine Art Grafiker. Das
Ungenügen seiner grafi schen Fertigkeiten brachte
ihn dazu, Marie Reidemeister als verantwortliche
„Transformerin“ (Designerin) und Gerd Arntz als
Chefgrafi ker zu engagieren. Arntz, der Gegen stände
mithilfe von prägnanten Schwarzweißkontrasten
darstellte, war der Hauptdesigner der Isotype-
Piktogramme. Obwohl Neurath eine mögliche Verwendung
der Isotype-Piktogramme für öffentliche
Beschilderungen andeutete, zögerte er doch, sie
außerhalb eines didaktischen Kontexts einzusetzen.
Die Piktogramme menschlicher Figuren, die derzeit
zumeist als Schilder für öffentliche Toiletten eingesetzt
werden, unterscheiden sich von den Isotype-
Piktogrammen durch ihre ausgeprägte Geometrie.
Sie sind mittlerweile so allgegenwärtig, dass sie in
die landläufi ge Grafi kkultur eingegangen sind. Ihre
Verwendung außerhalb des rationalen Kontexts
von Informationsschildern ermöglicht indes neue
Lesarten.
Sophie Hochhäusl
Otto Neurath und die Zeichen sozialen Lebens oder:
Die Moderne in den Österreichischen Siedlungen
und Kleingärten
Am 12. August 1933, als das Schiff langsam in den
Hafen von Marseilles einlief, wurden Unstimmigkeiten
deutlich: Obwohl der vierte Internationale
Kongress Moderner Architektur (CIAM IV) sein Ziel
33 Städte vergleichend zu kartografi eren erreicht
hatte, waren sich die Delegierten uneinig, wie sie
mit den Resultaten verfahren sollten. Das eine
Lager sprach sich für weitere Studien aus, um die
städtischen Untersuchungen wissenschaftlich zu
untermauern. Das andere Lager, angeführt von
CIAMs Mächtigen Le Corbusier, Sigfried Giedion
und Lazlo Moholy-Nagy, drängte auf umgehende
Entwurfsvorschläge.
Aber es gab noch eine dritte Position, die für die
Verwendung einer einfachen grafi schen Sprache
eintrat. Diese Sprache würde es allen Menschen,
Experten und Laien, ermöglichen an einem Diskurs
zur modernen Stadt teilzunehmen. Zudem war diese
Sprache durchtränkt mit Symbolen, welche auf ein
anderes, modernes Leben hinwiesen. Ein modernes
Leben, das von tausenden Wienern in den frühen
20er Jahren in Siedlungen und Gärten erprobt
wurde und das Rücksicht nahm auf Gemeinschaft
und Natur. Der einzige Vertreter dieses modernen
Lebens bei CIAM IV blieb jedoch Otto Neurath.
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(Sophie Hochhäusl and Manuel Singer, eds., Productive Limits, (Vienna: Sonderzahl, 2012))
Nikolaus Gansterer
Housing of Theory 13 (Otto's Nightmare)
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Piktogramme sind höchst ambivalente Kommunikatoren:
neben ihrem intendierten Informationsgehalt
fungieren sie parallel immer auch als Ordnungssysteme
und Machtinstrumente. Nikolaus Gansterer
beschäftigt sich in seiner vielschichtigen Rauminstallation
kritisch mit der Mehrdeutigkeit von
Zeichen. Entgegen der Logik der Wiener Methode
zur unmittelbaren Lesbarkeit der Bild-Zeichen
verdichtet Gansterer das Vokabular zeitgenössischer
Infografik zu einem komplexes Referenzsystem aus
offenen Denk-Figuren. An Hand von detaillierten
Lehrtafeln, diagrammatischen Tafelzeichnungen und
Modellen wird der Moment sichtbar in dem das
Arsenal der Bildpädagogik in sein Gegenteil kippt.
Kollektiv migrantas
Wenn Piktogramme im urbanen Raum Geschichten
der Einwanderung erzählen
Das Berliner Künstlerinnenkollektiv migrantas schafft mit den Werkzeugen der Kunst, des Designs und der
Sozialwissenschaften vielbeachtete Bilder für das Selbstverständnis von Migrantinnen und macht sie
im öffentlichen Raum zahlreicher Städte des In- und Auslands sichtbar. Die Piktogramme von migrantas sind
eine Synthese. Jedes einzelne erzählt eine Geschichte – dahinter stehen hunderte von Migrantinnen, die ihre
Erfahrungen in ihrem neuen Land in Zeichnungen festgehalten haben.
Die Projekte überschreiten zahlreiche Grenzen: Das Grafikdesign führt keinen eigenen Diskurs, sondern
interpretiert Bilderwelten voller subjektiver Inhalte. Es sind die Protagonistinnen selbst, die sich zur Migration
äußern. Werbeflächen werden nicht als solche genutzt, sondern als Plattform für den Dialog unter Passanten.
Das universell verständliche Design der Piktogramme liefert einen sehr direkten Zugang, breite Gesellschaftsschichten
können sich in den Bildern wiederfinden, neue Sichtweisen gewinnen oder alte verändern.
Es wäre eine Ehre für migrantas, in Wien ebenfalls ein solches Projekt umsetzen und damit in den Dialog mit
Wiener Migrantinnen treten zu können – in der Heimat und im Sinne von Otto Neurath.
Elisabeth Nemeth
Neuraths Utopien.
Zum Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie
Die überzeugung, dass Demokratie nur funktionieren
kann, wenn die Menschen beurteilen können,
worüber sie zu entscheiden aufgerufen sind, hat Otto
Neuraths intellektuellen und politischen Lebensweg
geprägt. Eine demokratische Gesellschaft braucht
eine „Demokratisierung der staatlichen Einsicht“,
d.h. sie braucht Einsicht der Bürgerinnen und Bürger
in soziale und politische Zusammenhänge. Diese
gewinnen sie aber nicht dadurch, dass schulische
oder wissenschaftliche Autoritäten ihnen Erkenntnisse
gleichsam von oben herab beibringen. Denn
erstens hat die moderne Wissenschaft gezeigt, dass
auch unser bestbestätigtes Wissen nur vorläufi gen
Charakter hat, und zweitens kommt es vor allem auf
die Aktivierung des Urteilsvermögens an. Die visuelle
Darstellung von gesellschaftlichen und ökonomischen
Zusammenhängen durch Isotype sollte die
Menschen in die Lage versetzen, diese Zusammenhänge
von unterschiedlichen Standpunkten aus zu
überlegen, zu diskutieren und daraus selbst Schlüsse
zu ziehen. Auf diese Weise würde, so Neurath, eine
refl exive Haltung eingeübt, die einerseits charakteristisch
für die Wissenschaft und andererseits für die
Demokratie ist.
Carl-Markus Piswanger / Robert Harm
open3.at Visualisierungen
Open Data, im Speziellen Open Government Data,
bietet die Möglichkeit, offen verfügbare Daten einer
breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
Unter den bekanntesten Anwendungen finden sich
statistische Aufbereitungen mit Querverknüpfungen
unterschiedlicher Datensätze, wie sie zum Beispiel
beim neuen Berufsbild des Datenjournalismus zu
finden sind. Integraler Bestandteil ist die grafi sche
Aufbereitung des Datenmaterials, um die oftmals
„sperrige“ Statistik für interessierte RezipientInnen
leichter nachvollziehbar zu machen.
Wie lassen sich die open3.at Visualisierungen zwischen
Datensatz und Kunst einordnen? Sie sind sicherlich
nicht primär kunstvoll, sondern Information. Dennoch
entwickelten sich über die letzten Jahre farbenfrohe
und stilistisch kontextualisierte, interaktive Grafi ken und
Anwendungen, die viel mehr intentionalen Ausdruck
mitbringen, als die reine grafische überführung von
Daten. Waren zuerst Standardprogramme wie “Excel”
vorherrschend, so entstanden in Folge elektronische
Darstellungsformen, welche zugleich grafi sch funktional
und interaktiv waren. Dieser erste Impetus rief die
Kreativen auf den Plan: Sie arbeiten nun Seite an Seite
mit Entwicklern, Statistikern und Datenjournalisten.
Die Umsetzung aktueller Visualisierungen orientiert
sich heute viel tiefgreifender an künstlerischen
Möglichkeiten. Wie das in Zukunft aussehen wird, lässt
sich zur Zeit schwer prognostizieren. Was aber bleibt,
ist die Kreativität der handelnden Personen, und
diese werden ihre Skills hoffentlich auch weiterhin in
open3.at einbringen.
Philippe Rekacewicz
Mehr Intelligenz um mehr zu töten
Das 20. Jahrhundert erlebte 140 kriegerische Auseinandersetzungen:
25 vor 1939 und 115 seit 1945.
Davon waren zwei global, fünfzehn zählten mehr als 1 Million Tote. Die Konflikte stiegen in jenem Maß
an, wie immer teurere und ausgeklügeltere Waffen hergestellt wurden.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg setzte die Massenproduktion ein: Flugzeuge, U-Boote und zum ersten
mal auch chemische Waffen, die tausende zivile Opfer forderten. Die Ausrüstung wurde technisch raffinierter:
Radar, Düsenflugzeuge, Panzerabwehr raketen, schwere Maschinengewehre, Flammenwerfer, Brandbomben,
Lenkflugkörper, Infrarottechnik, elektromagentische Bewegungsmelder, ... Die zwei Atombombenabwürfe
auf Japan katapultierten die Welt in das nukleare Zeitalter und die "Balance des Terrors".
In Vietnam setzte die US Air Force erstmals großflächig chemische Waffen und "smarte" Bomben ein.
Der Krieg von 1967 im Mittleren Osten inaugurierte die ersten Schiffsabwehr- und Langstreckenraketen.
Neue Entwicklungen wie Phosphorbomben, Fliegerpfeilgranaten, und DIMEs verbreiten Terror
gegen Zivilisten. Schließlich kamen noch die Überwachungsdrohnen dazu, die tausende Kilomenter
vom Abschussort ferngesteuert werden können. Je intelligenter die Waffen, desto mehr Menschen
(besonders ZivilistInnen) werden sterben ...
Günther Sandner
“Helping to fight Hitler and his gang”.
Otto Neurath und der britische Dokumentarfi lm im
Zweiten Weltkrieg
Im Mai 1940 flohen Otto und Marie Neurath aus
den Niederlanden nach England. Nach einer rund
achtmonatigen Internierung als enemy alien auf
der Isle of Man begannen sie in Oxford ein neues
Leben. Dabei spielte vor allem das im Wien der
1920er Jahre entstandene Projekt einer internationalen
Bildersprache eine zentrale Rolle. Schon im
April 1941 kontaktierte der linke Filmemacher Paul
Rotha, der sich vor allem als Dokumentarfilmer einen
Namen gemacht hatte, Otto Neurath. Der Regisseur
und Produzent war von der bildpädagogischen
Arbeit des österreichischen Emigranten fasziniert.
In den folgenden Kooperationsprojekten arbeitete
Neuraths Isotype-Institute daran, Piktogramme in
Trickfilmsequenzen zu übersetzen und diese in
Dokumentarfi lme zu integrieren, die etwa Fragen
der Gesundheit, der Abfallwirtschaft, der Lebensbedingungen
im Krieg oder der Zukunft der britischen
Gesellschaft behandelten. Insgesamt entstanden
im Rahmen dieser Kooperation 17 Filme im Auftrag
des Ministry of Information (MoI), in denen auch eine
ausgesprochen charakteristische und innovative
Filmtechnik entwickelt wurde. Doch für Neurath
bot diese Arbeit nicht nur finanzielle Perspektiven –
er verstand sie auch als seinen Beitrag im Kampf
gegen den Nationalsozialismus.
Im Rahmen des Vortrags werden die beiden Filme
„A Few Ounces a Day“ (1941) und „Land of Promise“
(1945/46) gezeigt.
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Peter Weibel
Demokratie und der Iconic Turn
Es wird behauptet, am Anfang war das Wort. Aber
diesen Anfang umgibt ein Mysterium, nämlich die
Entstehung der alphabetischen Schrift, d.h. die
Sequenzierung des unendlichen Lautstroms in eine
Folge von Vokalen und Konsonanten. Mit dem Alphabet
begann jene Kette von Medienrevolutionen, die uns
von Runen und Piktogrammen über musikalische,
mathematische Notationen bis zu den Symbolen
auf den grafi schen Benutzeroberflächen von
Computermenüs führte. Die symbolische Ordnung
aller Schrift- und Bildzeichen wurde offensichtlich
deswegen wichtig, weil wir entdeckten, dass sie die
soziale Ordnung nicht nur spiegelte, sondern auch
mitkonstruierte. Jede Medienrevolution war daher
nicht nur eine technische, sondern hatte auch soziale,
erkenntnistheoretische und sogar religiöse Folgen.
Der soziale Utopist und Vertreter einer naturwissenschaftlichen
Erkenntnislehre Otto Neurath hat diese
Zusammenhänge erkannt und daher mit der Entwicklung
von neuen Bildzeichen einen wesentlichen
Beitrag zur Zivilgesellschaft geschaffen. Der pictorial
turn (Mitchell, 1992), bzw. die ikonische Wende
(Böhm, 1994) wurde bereits 1933 mit der Methode
der Isotype von Otto Neurath ausgerufen.